Bisher oblag es dem Arbeitnehmer, nachzuweisen, dass er einen Anspruch auf Bezahlung der Überstunden hat. Das durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Mai 2019 (Urt. v. 14.5.2019, Az: C-55/18) erlassene sog. „Stechuhr-Urteil“ zur Arbeitszeiterfassung, zu dem wir bereits in unserem November-Blog-Beitrag-2021 berichtet hatten, wurde nunmehr in einem arbeitsgerichtlichen Rechtsstreit zum Anlass genommen, seitens des klagenden Arbeitnehmers, der die Auszahlung von Überstunden geltend machte, dem Arbeitgeber im Falle der Nichterfassung von Überstunden eine Beweisvereitelung vorzuwerfen und somit eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Arbeitnehmers anzunehmen. Die von der obersten arbeitsgerichtlichen Instanz, dem Bundesarbeitsgericht (BAG), zu treffende Entscheidung wurde mit Spannung erwartet.
Bisherige Rechtslage
Grundsätzlich hat der Arbeitnehmer im Falle einer Klage konkret darzulegen, zu welchen Zeiten und an welchen Tagen er über die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat. Ferner obliegt es dem Arbeitnehmer, nachzuweisen, dass die Ableistung von Überstunden durch den Arbeitgeber ausdrücklich oder konkludent angeordnet wurde. Ausreichend ist, wenn dem Arbeitgeber die Leistung der Überstunden bekannt war und er dies zumindest gebilligt hat. Sollte es zu einem gerichtlichen Rechtsstreit kommen, muss der Arbeitgeber zum Vortrag des Arbeitnehmers Stellung nehmen und entsprechend erwidern.
Der Fall
Vor dem Arbeitsgericht Emden (Urt. vom 09.11.2020 – 2 Ca 399/18) klagte ein Arbeitnehmer, der als Auslieferungsfahrer bei der Beklagten, einem Einzelhandelsunternehmen, beschäftigt war. Die Arbeitszeiten wurden von dem Kläger mittels einer technischen Zeitaufzeichnung erfasst, wobei nur der Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht jedoch die Pausenzeiten von dem System aufgezeichnet wurden. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnungen 348 Stunden, die von dem Kläger als Überstunden abgeleistet worden sein sollen.
Der Kläger machte eine Überstundenvergütung in Höhe von 5.222,67 Euro brutto geltend und war der Auffassung, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit über gearbeitet. Pausen habe er in dieser Zeit nicht nehmen können, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Die Beklagte hatte dies bestritten. Das Arbeitsgericht Emden gab der Klage statt und begründete seine Entscheidung damit, dass die Arbeitgeber gemäß des EuGH-Urteils (Urt. v. 14.5.2019, Az: C-55/18) ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem hätte einführen müssen, wodurch auch die Darlegungslast in Überstundenvergütungsprozessen modifiziert werden würde. Es reiche demnach aus, wenn der Arbeitnehmer die Zahl der geleisteten Überstunden schlüssig im Prozess darlegt. Sofern der Arbeitgeber, wie im vorliegenden Fall, nicht hinreichend konkret die Inanspruchnahme von Pausenzeiten darlegen kann,
sei die Klage begründet. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen wies mit Urt. v. 06.05.2021 – 5 Sa 1292/20 die Klage hingegen ab. Aufgrund der durch den Kläger eingereichten Revision gegen das abweisende Urteil des LAG hatte nunmehr das BAG hierüber zu urteilen.
Die Entscheidung des BAG
Die Revision vor dem BAG (Urt. v. 04.05.2022 – 5 AZR 359/21) hatte ebenfalls keinen Erfolg für den Kläger. Wie das BAG und das LAG zutreffend feststellten, ändert das sog. „Stechuhr-Urteil“ des EuGH (Urt. v. 14.05.2019, Az: C-55/18) an den bisherigen nach deutschem Prozessrecht und materiellen Recht entwickelten Grundsätzen über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast in arbeitsgerichtlichen Überstundenvergütungsprozessen nichts. Begründet wird dies damit, dass mit dem Urteil des EuGH Aspekte der Arbeitszeitgestaltung näher geregelt werden sollten, vor allem, um den Gesundheitsschutz und den Schutz der Sicherheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Das Urteil des EuGH solle jedoch nicht auch für die Geltendmachung von Vergütungsansprüchen des Arbeitnehmers Anwendung finden. Der Kläger habe nach Auffassung des BAG und des LAG nicht hinreichend dargelegt, dass das Durcharbeiten ohne Pausenzeiten erforderlich war, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Die bloße pauschale Behauptung des Arbeitnehmers, ohne konkret den Arbeitsumfang zu beschreiben, reiche hingegen nicht aus, um die Ableistung von Überstunden darzulegen und zu beweisen.
Fazit
Die Entscheidung des BAG dürfte auf der Seite der Arbeitgeber zu einem Aufatmen führen. Wäre das BAG der erstinstanzlichen Entscheidung gefolgt, hätte mit einer Welle an Klagen vor den Arbeitsgerichten auf Auszahlung geleisteter Überstunden gerechnet werden müssen. Dann wäre es für Arbeitnehmer möglich gewesen, die Ableistung von Überstunden pauschal darzulegen und zu behaupten und der jeweiligen Arbeitgeber hätte im Falle, dass er keine Zeiterfassung für Überstunden durchführt, diesen Behauptungen kaum etwas entgegensetzen können. Dennoch sollten Unternehmen bereits jetzt prüfen, ob sie ihrer Pflicht gemäß § 16 Abs. 2 ArbZG, der Aufzeichnung von über die 8 Stunden an werktäglicher Arbeitszeit hinausgehenden Arbeitszeit, nachkommen. Ferner werden sich Arbeitgeber auch noch zukünftig intensiver mit dem Thema Zeiterfassung auseinandersetzen müssen. Denn aufgrund des im Jahr 2019 ergangenen Urteils des EuGH vom 14.05.2019 C-55/18, was zukünftig von Unternehmen die Erfassung der gesamten täglich geleisteten effektiven Arbeitszeit verlangt, werden nach Umsetzung dieser Erfordernisse durch den nationalen Gesetzgeber auch erhebliche Neuerungen von deutschen Unternehmen verlangt werden. Es bleibt abzuwarten, welche Erfordernisse der nationale Gesetzgeber an die Zeiterfassung stellen wird.
Autorin: Vivien Demuth (Rechtsanwältin, Associate)